Der folgende Text erschien zuerst hier.
—
Von digitalen Promenadologen
Die Kunst des bewussteren Wahrnehmens
Die hermeneutisch angelegte Spaziergangswissenschaft, welche vom Soziologen Lucius Burckhardt und seiner Frau Annemarie entwickelt – und vor allem praktiziert – wurde, zielt darauf ab, seine Umwelt bewusster zu erfahren und wahrzunehmen – die weapon of choice dieser eher bewusst-weichen Methodik ist der „reflexive Sparziergang“. RUDOLF INDERST denkt darüber nach, was diese Praxis für digitale ludic scapes bedeuten könnte.
Der geneigte Spazierwissenschaftler begibt sich gerne auf Ausflüge. Auf diesen wird anhand von alltäglichen Situationen versucht, (stadt-)planerische Fragestellungen zu klären. Damit vermeintlich Selbstverständliches noch stärker hinterfragt werden kann, steht außerdem das Werkzeug der so genannten „ästhetischen Intervention“ zu Verfügung. Das bedeutet, der Promenadologe verlässt hier den sicheren Hafen des eher passiven Beobachters und wechselt in die Rolle des aktiven, ja, nennen wir ihn ruhig, „Spielers“. Ein Beispiel hierfür wäre das bewusst zögerliche Überqueren einer vielbefahrenen Straße, um durch dieses urbane Experiment eigene und fremde Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten offen zu legen. Man muss kein akademischer Hellseher sein, um die Nähe zu einer Art weniger systematischen ethnologischen Feldforschung zu sehen. Doch das führt an dieser Stelle zu weit.
Wandern in der Topographie des Ludischen
Als ich durch eine Radioreihe namens „Der Architektursommer“ zum ersten Mal auf das Phänomen der Spaziergangswissenschaft stieß, dachte ich unmittelbar an das Erkunden virtueller cityscapes in Open-World-Spielen wie Watch Dogs oder Teiler der GTA-Reihe. Dabei gingen mir auch Phänomene wie das virtuelle Cruising durch den Kopf, das einst Mathias Mertens so schön darstellte und ließ meine Gedanken schweifen. „Wahrnehmung ist ja kulturelle Tätigkeit“, meint Spaziergangswissenschaftler Gerhard Lang und somit auch letztlich die Grundlage politischen Handelns in nuce. Ursprünglich als realistischere Haltung zur „Wirklichkeit“ und für ein alternatives Verständnis von Raum gedacht, lässt sich durch die konsequente paidahafte Anwendung der Methodik vieles über das Spiel, seine Mechaniken, aber auch seine Ideologien erfahren.
Innehalten, an sich halten und Verhalten
Auch oder gerade im Spiel gilt, dass „Bäume und Pflanzen natürlich existieren, doch das, was wir als Landschaft beschreiben, ein Bild, eine Konstruktion ist, eine kulturelle Erfindung. Diese Erkenntnis gehört zu den Grundannahmen der Disziplin: Eine Landschaft entsteht im Kopf und kann im Kopf auch verändert werden.“ (Quelle) SpielerInnen haben das Privileg, sich damit auseinander zu setzen, „wie sich urbane Räume kreativ und partizipativ gestalten lassen.“ (Quelle) So wie die Spaziergangwissenschaftler verlassen wir die Seminarräume, um virtuelle Wirklichkeit zu erfahren, zu verändern und zu kreieren. Wir beobachten sinnhaften binären Code, aber das reicht uns nicht. In Feedbackschleifen greifen wir immer wieder in das Geschehen ein und jonglieren mit den Spielinhalten.
Der Luxus des Verweilens
„In seiner Art als einer Fortbewegung durch den Raum als Selbstzweck, verwiesen sei hier auf den Flaneur als den Archetypen eines verweilenden Betrachters, der den Stadtraum aufgrund seiner selbst betrachtet, ist der Spaziergänger keinem räumlichen Ziel verpflichtet, sondern alleine seinem Vergnügen an der Fortbewegung und der Betrachtung des Stadtraums.“ (Quelle) Dieses Verweilen und Betrachten schafft in seinem Kontinuum auch eine Art der emotionalen Bindung, und sei es nur der Brückenschlag der Gewohnheit, der dann aber immer wieder durch neue Blicke (vulgo: neue Perspektiven wie in etwa Third Person, First Person, freie Kamera) in Frage gestellt wird. Die eigentliche Gewohnheit scheint genau das zu sein: das Hinterfragen.
Genau dieses sorgt im Spiel dafür, dass eine reiner Konsum von virtueller Räumlichkeit vermieden wird: „Durch das vor-Ort-sein und die damit verbundene Gegenwärtigkeit des Körpers sowie Geistes, entstehen so Eindrücke vom durchschrittenen Raum, die Machtgefüge und deren bauliche Äußerung, planerische und nutzerbezogene Konflikte, räumliche Widersprüche und ästhetische Dimensionen von Stadt und Landschaft aufscheinen lassen.“ (Quelle) Worauf wartet Ihr also? Raus mit Euch!